WHY ME? WHY NOT!

0

Hat Benjamin von Stuckrad-Barre mit „Noch wach?“ einen Anti-Springer-Roman geschrieben? Über die Stärken eines Buches und die blinden Flecken einer aufgeregten Debatte.

Benjamin von Stuckrad-Barre hat ein Buch geschrieben. Das ist sein Job, er ist Schriftsteller. Doch dieses Buch wurde mit Spannung erwartet, denn es geht um Themen, die heiß diskutiert wurden in den vergangenen Jahren. Und auch jetzt wieder diskutiert werden, dieser Tage.

Ein Chef und eine Volontärin verlieben sich am Arbeitsplatz ineinander, wunderschöne Geschichte. Am Faxgerät ging es los, und heute kann sie keiner mehr trennen. Ja, das passiert. Aber ist es für beide gleich leicht, diese Beziehung zu beenden? Die Antwort ist klar. Und da findet Machtmissbrauch statt. Stuckrad-Barre war eine Zeit lang der Macht sehr nahe. Er verdiente nicht nur sein Geld beim Springer-Verlag, er war auch befreundet mit Mathias Döpfner dem Springer Chef.

Als 2021 Machtmissbrauchsvorwürfe gegen Julian Reichelt, den damaligen Chefredakteur der Bild-Zeitung, laut wurden, suchten einige Frauen den Kontakt zu Stuckrad-Barre.

Es ist eine fiktionale Geschichte, aber ich habe Beobachtungen, Erfahrungen gemacht und mir dann so meine Gedanken… und mir eine dazu passende Geschichte ausgedacht. Benjamin von Stuckrad-Barre, Autor

Kiepenheuer & Witsch, Gebundene Ausgabe, 384 Seiten, 25 Euro
 

Im Stuckrad-Barre-Tempo rasen peinliche Szenen vor ranghohen Persönlichkeiten und auf der Arbeit des Du´s vorbei sowie ein „Chefredakteur“, der für „dich“ und „deine“ Anfängerfehler Verständnis zeigt, der „dich“ sieht, „dir“ Mut macht, „dich“ fördert. Mit dem man unromantisch Chicken Wings im Büro nagt, der einen Tisch im „Borchi“ reserviert, der Bücher schenkt und zum Mentor jenes Du´s avanciert. Der anders ist als die langweiligen Tinder-Männer, die gern „zu Hause einen entspannten“ machen, die nicht auf einem Pferd im Krieg vor einem Granateneinschlag davongeritten sind. Herrlich beschreibt Stuckrad-Barre gleichzeitig ein schillerndes Milieu und die perfide Taktik eines Mannes in Machtposition. Das alles mit Crime-Suspense, aus der Sicht einer jungen Frau, die angenehmerweise (noch) nicht idealisiert wird, sondern kreischend absurde Satzkollisionen zulässt, wenn sie den „Chefredakteur“ beschreibt: „ziemlich süß irgendwie“. Weil er zehn Minuten später schon wieder einen Bundesminister am Telefon „zusammenscheißt“.

Man hört von einer Betroffenen, wie das abläuft, wenn sich Chefredakteure großer Boulevardmedien an junge Volontärinnen ranmachen. Man hört es gern. Zum einen, weil man genau diese Geschichte in allen möglichen Medien von allen möglichen Leuten gehört hat, außer von einer betroffenen Frau. Zum anderen, weil bei alldem der sichere Boden der Fiktionalität vibriert und irgendwo sehr laut der Ex-Bild-Chef Julian Reichelt trampelt.

Selbst, wenn man sich stark konzentriert, hier eine Literaturkritik und keine Schlammschlacht-Exegese der Medienwelt zu verfassen, so muss man sehr abstraktionsbegabt sein, um nicht bei jenem „Chefredakteur“ vor dem inneren Auge eine Rahmenbrille und ein leicht aufgeknöpftes Hemd aufblitzen zu sehen. Weiß man dann um die langjährige Freundschaft zwischen dem Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre und Axel-Springer-Chef Mathias Döpfner und um die Rolle des Schriftstellers im Compliance-Verfahren bei der Bild-Zeitung, dann muss man tief durchatmen und sich den Disclaimer des Verlags noch mal vorbeten: „Vielmehr hat der Autor ein völlig eigenständiges neues Werk geschaffen.“ Amen.

In Teilen inspiriert? Eigenständiges neues Werk? Das wollen wir dem Autor nur in der Hinsicht durchgehen lassen, als er und sein Verlag sich so rechtlich absichern.

Könnten Mathias Döpfner oder Julian Reichelt gegen ein Buch vorgehen, in dem sie namentlich nicht genannt werden, von dem man aber weiß, dass jede Seite von ihnen handelt? Jede geschilderte Szene, jede Unterhaltung, jeder Chat? Die Unterstellung dieser 384 Seiten ist: So und nicht anders ist es gewesen. So wird es nicht gesagt, ist aber so gemeint und wird auch so verstanden werden. „Das gesamte Personal dieses Romans sei anhand der Wirklichkeit frei erfunden. Auch das „Ich“ des Buches, das bin ja nicht ich, auch wenn wir uns gut kennen. Und die wichtigste Figur ist ohnehin keiner dieser Typen, sondern die ebenfalls fiktive Heldin Sophia“, sagt Stuckrad-Barre.

Diese Sophia kennen wir nicht. Aber die anderen Figuren in diesem „Roman“, die kommen uns doch sehr bekannt vor.

Aufmacherbild © Max Sonnenschein