Der Film „Die Zeit, die wir teilen“ feierte seine Weltpremiere auf der 72. Berlinale. Ein Drama mit Tiefgang, welches die Tragik einer Familie sensibel erzählt. Wir haben den Film schon gesehen.
„Die Zeit, die wir teilen“ beginnt mit einer regnerischen nächtlichen Autofahrt. Joan Verra (Isabell Huppert), eine erfolgreiche Verlegerin Anfang 60 wendet plötzlich den Blick von der Straße in die Kamera, um die vierte Wand zu durchbrechen und sich den Zuschauern persönlich vorzustellen. Ein klassischer filmischer Kunstgriff, der sich so in den folgenden 100 Minuten nicht wiederholen wird.
Der zweite Film des französischen Theater- und Kinoregisseurs Laurent Larivière ist komplett aus einer subjektiven Perspektive erzählt. Er hangelt sich, ein wenig sprunghaft, im Kern aber doch halbwegs chronologisch, als Bewusstseinsstrom durch ein langes Leben. Die stark persönliche Färbung all der Erinnerungen, die er hintereinander aufreiht, ist von Anfang an spürbar.
Handlung:
In Paris begegnet Joan (Isabelle Huppert) überraschend ihrer ersten großen Liebe Doug wieder. Aufgewühlt durch das kurze Treffen verlässt sie überstürzt die Stadt und findet auf dem Land die notwendige Ruhe, um in sich zu gehen. In ihrem alten Landhaus lässt Joan die letzten vierzig Jahre Revue passieren.
Zunächst springt Joans Gedächtnis weit in die Vergangenheit. Sie erinnert sich an ihre Zeit als Au-pair-Mädchen in Dublin, der Heimatstadt ihres Vaters. Damals verliebte sie sich in Doug, einen irischen Taschendieb, mit dem sie eine wilde Zeit verbrachte, die im Gefängnis endete. Joan kam schnell wieder frei, doch die Beziehung der beiden nahm ein abruptes Ende. Doug weiß nicht, dass Joan ein Kind von ihm bekommt, das sie fortan allein großzieht – jedenfalls mehr oder weniger. In ihrer Mutterrolle geht das viel zu junge Mädchen zunächst wenig auf. Joan leidet selbst unter einer abwesenden Mutterfigur, nachdem ihre eigene Mutter Mann und Tochter zurücklässt, um mit einem Karatelehrer nach Japan durchzubrennen.
Das hinterlässt Spuren. Doch Joan geht ihren Weg und entwickelt sich zu einer selbstbewussten, aber unnahbaren Frau. In Frankreich, dem Heimatland ihrer Mutter.
Dort avanciert sie zu einer angesehenen Verlegerin.
Ihre emotionale Reise in die Vergangenheit führt sie zurück an einen Sommertag, an dem ein schwerer Schicksalsschlag ihr Leben für immer veränderte.
All diese Rückblenden unterbricht Larivière immer wieder durch Flash-Forwards in die Gegenwart, in der Joan in einer Beziehung mit dem deutlich jüngeren deutschen Schriftsteller Tim Ardenne zusammenlebt, den Lars Eidinger zunächst als ziemlich durchgeknallten eines prätentiös-selbstzerstörerischen Großkünstlers anlegt, um dann später doch noch überraschend zurückgenommene Töne zu finden.
Dann kommt Joans inzwischen erwachsener, in Kanada lebender Sohn Nathan (Swann Arlaud) zu Besuch. Diesem begegnet der Zuschauer über die verschiedenen Zeitebenen der Erzählung hinweg in verschiedenen Lebensaltern. Nach und nach entwickelt sich daraus das Bild einer komplizierten, unperfekten, aber keineswegs lieblosen Mutter-Sohn-Beziehung, die zunächst schleichend und schließlich deutlich ins Zentrum des Films rückt.
Durch ein Telefonat erfährt Joan vom Tod ihrer Mutter, die bereits vor 15 Jahren unbemerkt zurück nach Frankreich kam. Sie verbrachte ein verborgenes, tristes Leben in einfachen Verhältnissen – ohne ihre Familie zu informieren. Die Beschäftigung mit dem Tod ruft alte Erinnerungen hervor und damit das schicksalhafte Ereignis, welches ihr Leben bis heute bestimmt.
Fazit: Ein zauberhafter und ganz wunderbarer Film, der schwerelos durch die Zeiten und durch ein Leben, der mit leichter Hand schwere Themen um Verlust, Abschied und Trauer behandelt. Isabelle Huppert in ihrer Paraderolle als selbstbewusste, aber unnahbare Frau. Lars Eidinger spielt mit seinem Image als Schauspieler, der sein Leben zu einer einzigen Kunst-Performance macht und glänzt als unverbesserlich stur Verliebter. Absolut sehenswert. „Die Zeit, die wir teilen“ startet am 31. August 2022 in den deutschen Kinos.
Fotos: © CAMINO Filmverleih